Alex Kiesow ist in der deutschen Marathonszene bestens bekannt. Vor allem deshalb, weil er bei unglaublich vielen Veranstaltungen am Start steht und dabei unten herum unglaublich wenig anhat. Manchmal läuft er in Sandalen, meistens komplett barfuß. Wir haben mit Alex über seinen Einstieg ins Natural Running und seine Entwicklung als Barfußläufer gesprochen.
goFree Concepts: Lieber Alex, alleine in diesem Jahr bist Du schon 24 Marathons gelaufen – sieben davon in Luna Sandalen, die anderen 17 komplett barfuß. Wie hat das alles angefangen?
Nach 10 Jahren als Schuhe mit Einlagen tragender Marathonläufer und einigen Ausflügen in den Ultrabereich begann für mich Ende 2008 eine beruflich bedingte Laufpause von fast 6 Jahren. 20 kg hatte ich nach dieser Zeit mehr auf der Waage und es war alleine deshalb höchste Zeit, mich wieder sportlich zu betätigen.Im Bewusstsein meiner früheren Diagnose von Knick-, Senk-, Spreiz-, Platt- oder was-weiß-ich was für Füßen, ging ich wieder brav zum Arzt, dann zum orthopädischen Schuhmachermeister und ließ mir vor meinem nächsten Marathon neu vermessene Einlagen in die Laufschuhe einpassen. Dieses Selbstverständnis kam mir zwar zunehmend absurd vor. Gleichzeitig aber signalisierten meine Knie schon nach kürzester Zeit den Laufstopp, wenn ich versuchte ohne Einlagen in meinen Laufschuhen zu laufen.
Ich brauchte also Schuhe und die brauchten Einlagen. Und so kam es, wie es kommen musste – ich zog Einlagen UND Schuhe aus und drehte meine erste ”Barfuß”-Runde im Wald. Das war der absolute Wahnsinn! So einfach und doch so genial! Ein echtes Aha-Erlebnis aller Sinne! Ich spürte sofort, dass das der richtige Weg war und ahnte bereits, dass ich nicht fußkrank war, sondern vor allem muskuläre Degenerationen durch den ständigen Gebrauch von High-Tech Schuhen die Wurzel des Übels waren.
Ein klassisch autodidaktischer Beginn also. Wie ging es danach weiter für Dich?
Ich begann das Internet nach Lösungsansätzen zu durchsuchen, um die muskuläre Mehranstrengung ohne Schuhe besser meistern zu können und stieß auf eine junge Läuferin aus München. Unermüdlich und euphorisch berichtete die quirlige Dame auch von längeren Strecken in Luna Sandalen und dem daraus resultierenden, natürlichen Bewegungsablauf.
Je mehr ich über ”Natural Running” las und schaute, um so mehr war ich davon überzeugt, dass das nicht nur sehr gut aussah, sondern sich auch sehr gut anfühlen musste. Und so bestellte ich mir mein erstes Paar Luna Sandalen bei Christian – damals Minimalschuh-Fachmann bei Luna Deutschland, heute bei goFree Concepts.
Der erste Lauf in Lunas war das nächste Aha-Erlebnis. Mit freien Füßen, aber trotzdem geschützter Fußsohle merkte ich, dass mir mit diesen Minimalschuhen der Weg zum Marathon offen stand. Barfuß so lange durchzuhalten, kam mir damals noch ziemlich unmöglich vor doch mit den Lunas ging alles sehr schnell. Schon nach 4 Monaten war es soweit und ich finishte in Karlsruhe meinen ersten ”Natural-Running“ Marathon.
Das klingt tatsächlich nach einer sehr schnellen Umstellung. Vielleicht etwas zu schnell?
Von der Pace her ging ich das Ganze eher gemächlich an und benötigte in Karlsruhe für den Marathon 5:15 h – 1:30 h mehr als vier Monate zuvor in Schuhen mit unverzichtbar geglaubten Einlagen. Dummerweise lies mich das neue Laufgefühl etwas euphorisch werden und so bestritt ich mit meinem neuen Equipment gleich drei Marathons in nur fünf Wochen – darunter ein Trail-Marathon mit 1.500 Höhenmetern. Für meinen Bewegungsapparat war das am Ende definitiv zu viel Reiz innerhalb zu kurzer Zeit und die Strafe folgte in Form eines Muskelfaserrisses in der Wade.Also doch zu viel des Guten. Dennoch hast Du Dich nicht entmutigen lassen?
Überhaupt nicht. Ab diesem Zeitpunkt begann ich allerdings wirklich achtsam zu werden, langsam und kontrolliert zu laufen und die Umstellung auf ”Natural Running” als einen Prozess zu betrachten, der bis zur vollständigen Anpassung und Automatisation Jahre dauern würde. Michèle Schmid aus Basel mit ihrem ”Run Plus” Konzept verschaffte mir die nächsten wichtigen Impulse bei der Umstellung der Lauftechnik. Leider nur virtuell aber dafür immer mit sehr viel Empathie.
Bis zum nächsten Marathon in Lunas verging ein halbes Jahr, der erste Barfußmarathon folgte mit gut gefestigtem Laufstil einen Monat später. 6 h brauchte ich auf dem teilweise steinigen und schweren Naturweg rund um den Zieselsmaarsee in Kerpen, wobei nicht nur die Wege Natur pur waren, sondern auch die Teilnehmer. Auf dem Naturistengelände des Familien-Sportbundes lief ich meinen ersten Barfußmarathon standesgemäß ganzkörperbarfuß, ganz im Sinne der Natur :-)
...und das war erst der Anfang! Würdest Du sagen, dass Du Deinen Barfuß-Laufstil inzwischen perfektioniert hast?
Erst im Oktober 2018, nach fast 3,5 Jahren Autodidaktik, nahm ich an einem Barfuß-Seminar teil und wählte den Kurs ”Barefoot-Running-Coach” bei Emanuel Bohlander in der Barefoot Academy Düsseldorf. Selbst zu coachen war zwar nicht die Triebfeder bei der Belegung dieser Intensiv-Woche aber mittlerweile steht der Plan, doch bald auch selbst Barfuß-Einsteigerkurse anzubieten. Ich sah bei Emanuel und Team meine selbst entwickelte Lauftechnik durch die mir dort vermittelten anatomischen Hintergründe einerseits bestätigt und empfand andererseits meine noch bestehenden Baustellen auf einem sehr guten Weg. Alleine um genauer zu wissen, wo man steht, empfiehlt es sich, sich nicht nur virtuell zu bilden, sondern auch den persönlichen Kontakt zu erfahrenen Vertretern der ”Natural-Running” Idee zu suchen.
Abgesehen von der verdienten Überlastungsverletzung durch den viel zu wilden Anfang meiner Umstellung bin ich, nachdem ich mich von herkömmlichen Laufschuhen samt Einlagen getrennt habe, vollkommen schmerz- und beschwerdefrei. Meine Füße stützen sich nun selbst und das auch ohne Probleme nach 24 gelaufenen Marathons alleine in 2018. Blaue Zehennägel, Shin Splints, Läuferknie, Zerrungen und sonstige Überlastungsanzeichen Fehlanzeige.